- Rotation der Erde und Zeit
- Rotation der Erde und ZeitNoch bis in die 30er-Jahre des 20. Jahrhunderts glaubte man, dass die rotierende Erde einer sehr gleichmäßig gehenden Uhr entspräche, wenn man einmal von säkulären oder sehr langperiodischen Änderungen absieht. Sie diente daher als Normaluhr, nach der alle andern Uhren gestellt wurden.Die Entwicklung elektronischer Uhren brachte jedoch völlig neue Einsichten. Mit den berühmt gewordenen, 1934 von Adolf Scheibe und Udo Eberhard Adelsberger an der damaligen Physikalisch-Technischen Reichsanstalt in Berlin (heute PTB, Physikalisch-Technische Bundesanstalt) konstruierten Quarzuhren gelang der Nachweis von jahreszeitlichen Schwankungen der Erdrotation. Die Einführung der noch genaueren Atomuhren um 1955 offenbarte weitere Unregelmäßigkeiten und zwang die Astronomen, eine gleichmäßigere Zeitskala einzuführen und auf Uhren, die der Erdrotation folgen, zu verzichten.Die seit 1960 verwendete Zeitskala wurde Ephemeridenzeit genannt, weil sie aus den Ephemeriden, das heißt aus den gemessenen oder berechneten Bahnbewegungen der Gestirne abgeleitet war. Hierzu dienten vor allem Beobachtungen der Mondbewegung und der Merkurdurchgänge vor der Sonnenscheibe, deren Zeiten mit jenen aus den physikalischen Bahnberechnungen verglichen wurden. An die Stelle der ungleichmäßigen Erdrotation sollten die Bahnbewegungen nach den Newton'schen Gesetzen treten. Der Ephemeridenzeit liegt die Länge des tropischen Jahrs um 12 Uhr am 1. Januar 1900 zugrunde. Ihr Skalenmaß ist die Ephemeridensekunde, der 31 556 925,9747te Teil dieses Jahrs. Die Ephemeridenzeit hatte den Nachteil, dass man ihr Skalenmaß nicht einfach wie einen Längenmaßstab in die Tasche stecken konnte; sie musste immer erst aus den astronomischen Beobachtungen berechnet werden.Für die bürgerliche Zeit galt weiterhin die aus der Erdrotation entnommene Zeitskala mit der Sekundenlänge als dem 86 400ten Teil der Tageslänge. Der unbefriedigende Zustand, dass es zwei verschiedene Sekunden gab, konnte erst durch jahrelange Verhandlungen in internationalen Gremien 1967 beendet werden: Die Sekunde wurde neu definiert im Internationalen Einheitensystem (SI). Die so definierte Sekunde konnte mit den außerordentlich genauen Atomuhren jederzeit dargestellt werden und wurde so gewählt, dass ihre Länge mit der Ephemeridensekunde der Astronomen möglichst gut übereinstimmt. Ihre Dauer ist festgelegt durch 9 192 631 770 Perioden der Strahlung, die dem Übergang zwischen den beiden Hyperfeinstrukturniveaus des Grundzustands des Nuklids Cäsium 133 entspricht.Die Atomsekunde ist keineswegs konstant. Relativistische Effekte des Gravitationspotenzials haben Einfluss auf die Frequenz der Atomuhren, also indirekt auch auf die Dauer der Atomsekunde. Diese wurde zwar auf das Potenzial des Meeresniveaus (das heißt auf das Geoid) bezogen, doch gibt es starke Einflüsse des Gravitationspotenzials der Sonne wegen der Exzentrizität der Erdbahn. Alle Uhren gehen bei Stellung der Erde im Perigäum (Erde der Sonne am nächsten) um den Faktor 3,3 · 10-10 langsamer als im Apogäum (sonnenfernster Bahnpunkt der Erde). Eine der zurzeit weltweit besten Atomuhren, die CS 2 der PTB in Braunschweig, die nur eine Gangunsicherheit von 1,5 · 10-14 hat, würde rund 20 000fach gleichmäßiger gehen, wenn die Erdbahn ein Kreis wäre. Sie muss dem im Jahresrhythmus schwankenden Gravitationspotenzial folgen und verlangt Korrekturen, wenn es um sehr genaue Zeitmessungen an Objekten des Universums geht.RotationsschwankungenDie relativen Schwankungen der Erdrotation betragen maximal ±5 · 10-8. Die Atomuhren, mit denen die SI-Sekunde dargestellt wird, gehen also um mehr als eine Million mal genauer als die »Erduhr«. Die Analyse des Zeitverhaltens der Schwankungen ergibt für die Rotationsschwankungen der Erde drei verschiedene Arten und Ursachen:(1) Die jährlichen Schwankungen führen auf eine Änderung der Tageslänge um 1/2 Millisekunde im Jahreslauf. Hinzu kommt eine halbjährliche Schwankung um 1/3 Millisekunde und eine zweijährliche. Sie sind fast vollständig zu erklären durch die variable Windzirkulation der Atmosphäre. Die halbjährliche Schwankung enthält einen von den Erdgezeiten bewirkten Anteil.(2) Als größte Schwankung, von der Größenordnung 5 · 10-8, gilt die als dekadisch bezeichnete, weil ihre Quasi-Periode einige Jahrzehnte beträgt. Über ihre Ursache wurde lange diskutiert, weil sich alle von außen einwirkenden Drehmomente und Laständerungen atmosphärischer, hydrosphärischer und tektonischer Herkunft um eine Größenordnung zu klein erwiesen. Die Ursache kann nur in einem Drehimpulsaustausch zwischen Erdmantel und Erdkern bestehen, der über eine magnetische Kopplung zustandekommt.(3) Als dritte Art wird eine langsame Verzögerung der Rotationsgeschwindigkeit oder ein Anwachsen der Tageslänge, also eine säkulare Änderung der Erdrotation beobachtet. Als Ursache gilt die Gezeitenreibung, wie bereits bei der Besprechung der Gezeiten näher ausgeführt wurde. Das Anwachsen der Tageslänge beträgt im Mittel 2,05 Millisekunden in 100 Jahren.ZeitskalenIm Jahr 1972 wurde eine neue Zeitskala, die Internationale Atomzeit TAI (Temps Atomique International) eingeführt. Es handelt sich um eine Zeitskala, die aus den Zeitangaben der Atomuhren aller Zeitinstitute der Erde gemittelt wird (mit Gewichtung der Uhrenqualitäten). Wegen der säkularen Verzögerung der Erdrotation ist die dieser Skala zugrunde liegende SI-Sekunde schon heute zu kurz. TAI ging 1994 um 29 Sekunden vor gegenüber der nach dem Sonnenstand ausgerichteten koordinierten Weltzeit UTC (Universal Time Coordinated; Worte englisch, Wortstellung französisch). Diese UTC-Skala war notwendig, denn die Sonne richtet sich nicht nach TAI. Um eine am Sonnenstand orientierte Zeitskala für den bürgerlichen Gebrauch zu schaffen, wurde folgende Lösung gefunden: Beide Skalen, TAI und UTC, haben als Skalenmaß die SI-Sekunde (Atomsekunde), stellen jedoch jeweils die Atomzeit beziehungsweise die koordinierte Weltzeit dar. Außerdem sollen die Sekundensignale synchronisiert sein. Die Lösung besteht in der Einführung von Schaltsekunden. Die Differenz TAI — UTC = n sollte stets eine ganze Anzahl n von Sekunden betragen. Wenn man n kennt, braucht man nur eine der beiden Skalen. Schaltsekunden werden an UTC angebracht, wenn die Abweichung von UTC gegenüber TAI 0,9 Sekunden zu erreichen droht, und zwar je nach Bedarf Ende Dezember und/oder Ende Juni, notfalls auch vierteljährlich oder zu einem Monatsende.Relativistische EffekteAbläufe von Ereignissen erfassen wir in der Zeitkoordinate und legen sie mit Uhren quantitativ fest. Auch wenn heute Atomuhren diese Funktion erfüllen, orientieren wir uns doch praktisch am Sonnenlauf oder an der Erdrotation, was in der Zeitskala UTC zum Ausdruck kommt. Für präzise Messungen der Erdrotation dient den Astronomen hierbei ein System von ausgewählten Fixsternen, weshalb man von einer globalen Messung sprechen kann.Im Prinzip lässt sich die Erdrotation auch mit einem Pendel messen, wie es Jean Foucault 1851 im Pariser Panthéon vorgeführt hat, völlig losgelöst vom System der Fixsterne, ohne jeden Blick nach draußen, also in einem lokalen Bezugssystem. Das Pendel behält seine Schwingungsebene im Raum bei, und die Erde dreht sich darunter hindurch. Dass beide Messungen zum gleichen Resultat führen, hatte den österreichischen Physiker und Philosophen Ernst Mach tief beeindruckt. Denn ein absoluter Raum als Bezugssystem, in dem das Foucault-Pendel seine Schwingungsebene hätte orientieren können, existierte nicht, wie 1887 Albert Michelson und Edward Morley mit ihrem berühmten Interferometer-Experiment in Cleveland/Ohio gezeigt hatten. Mach war überzeugt, dass das Pendel seine Schwingungsebene im System der kosmischen Massen konstant hielt, also auch im geschlossenen Gebäude des Panthéons von den Sternen des Universums »wusste«. Diese Kenntnis konnte es nur durch die alles durchdringenden Gravitationskräfte der Massen des Universums erhalten. An die Stelle des Newton'schen absoluten Raums hatte das Gravitationsfeld des Universums zu treten.Einen tieferen Einblick in die Problematik ermöglicht das folgende Gedankenexperiment: Man denke sich die rotierende Erde als für sich allein im Universum existierend; alle übrigen Massen denken wir uns entfernt. Mangels irgendwelcher anzupeilenden Marken im umgebenden Raum könnten wir dann gar nicht feststellen, ob die Erde rotiert oder nicht. Wegen der Nichtexistenz des absoluten Raums würden wir von einer Rotation der Erde gar nicht sprechen können; eine entsprechende Aussage wäre sinnlos. Dann gäbe es aber auch keine Fliehkräfte, von denen man auf eine Rotation schließen könnte. Da aber die Erde abgeplattet ist und entsprechende Fliehkräfte gemessen werden, kann die Erde nicht allein existieren. Es muss noch weitere Massen im Weltall geben, auf die man die Erdrotation beziehen kann. Diese Massen sollten sogar die Fliehkräfte erst induzieren. Wie viele Massen wären hier nötig oder ausreichend? Dieser Frage ging der Stuttgarter Physiker Friedrich Hund um 1950 nach. Er fand durch Rechnungen im Rahmen der Relativitätstheorie, dass erst die Massen des ganzen Weltalls imstande seien, ein globales Bezugssystem bereitzustellen, in dem die Erdrotation ohne »Schlupf« beschrieben werden kann; erst dann werden auch die quantitativ richtigen Fliehkräfte induziert.Ein bekannter relativistischer Effekt ist ferner der Einfluss des Gravitationspotenzials auf die Geschwindigkeit, mit der Zeit abläuft, genauer gesagt auf die Gangfrequenz von Uhren. Einstein hatte im Rahmen der Relativitätstheorie abgeleitet, dass die Geschwindigkeit, mit der die Zeit abläuft und die auch die Gangfrequenz von Uhren bestimmt, eine lineare Funktion des Gravitationspotenzials ist. So wird im starken Gravitationsfeld massereicher Fixsterne die Frequenz des abgestrahlten Lichts zu langsameren Schwingungen hin verschoben (gravitative Rotverschiebung).Auf der Erde konnte von den Zeitinstituten nachgewiesen werden, dass die Atomuhren auf hohen Bergen schneller laufen als auf Meeresniveau. Es müssen folglich entsprechende Korrekturen angebracht werden, bevor die Uhrstände zur Atomzeit TAI beitragen können, deren Skalenmaß, die SI-Sekunde, ja auf das Meeresniveau bezogen wird.Zeit und Expansion des UniversumsDas Gravitationspotenzial des Universums hat den außerordentlich hohen Wert von im Mittel c 2, es ist also dem Quadrat der Lichtgeschwindigkeit gleich. Durch die Expansion nimmt es jedoch im Lauf kosmischer Zeiten ab. Die Konsequenz ist eine Zunahme der Uhrfrequenzen und damit ein schnellerer Ablauf der Zeit. Mit den Uhrfrequenzen erhöhen sich alle Geschwindigkeiten physikalischer, chemischer und auch biologischer Prozesse. Da aber Uhren oder Zeitmessungen bei der Messung aller physikalischen Konstanten wie der Gravitationskonstante und sämtlicher andern Kopplungskonstanten, der Massen und Kräfte erforderlich sind, unterscheiden sich die Messergebnisse zahlenmäßig von den heutigen nicht; die Veränderungen gegenüber den heutigen Prozessen werden gar nicht bemerkt, weil eben alles einfach im gleichen Maß schneller abläuft.Die Frequenz einer Uhr beliebiger Bauart ist, wie oben dargelegt wurde und theoretisch und praktisch nachgewiesen ist, vom Gravitationspotenzial linear abhängig. Eine Atomuhr, die auf Meeresniveau eine bestimmte Frequenz hat und die an einen Ort höheren Niveaus transportiert wird, zum Beispiel zu dem 1650 Meter über dem Meer gelegenen US-Bureau of Standards in Boulder (Col.), geht dort um den Faktor + 1,8 · 10-13 schneller. Dies ist keine Täuschung, denn bringt man die Uhr wieder auf Meeresniveau zurück, kann man an ihr ablesen, um wie viel sie auf dem höheren Niveau vorgegangen ist.Die Frage, was mit der Uhr passiert, wenn sie in ein anderes Gravitationspotenzial kommt und ihre Frequenz entsprechend ändert, wird wohl selten gestellt. Die Uhr läuft auf einem Berg nicht deshalb schneller, weil einfach die Zeit schneller läuft. Sie geht dort schneller, weil sich ganz konkret diejenigen Bauelemente ändern, die die Frequenz bestimmen. Diese Feststellung bezeichnet eigentlich nur eine Identität: Die Änderung der frequenzbestimmten Bauteile ist mit der Aussage, die Uhr ändere ihre Frequenz, identisch. Foucault-Pendel und Uhrpendel erweisen sich als Schlüssel zum Verständnis der kosmologischen Folgerungen aus dem Mach'schen Prinzip.Die Tageslänge nimmt durch die Gezeitenreibung in 100 Jahren um 2,05 Millisekunden zu. Der relativistische Effekt im Zug der Expansion des Universums würde dagegen die Tageslänge um 0,49 Millisekunden pro 100 Jahre verkürzen. Dies kann aber ein Beobachter, der an der Weltentwicklung teilnimmt, nicht bemerken, weil seine Uhr gegenüber einer heutigen Uhr genau um diesen Betrag schneller geht. Die Verkürzung der Tageslänge existiert nur bezüglich des heutigen Uhrgangs, also nur für einen Beobachter, der unsere heutige Zeitskala auf künftige Ereignisse projiziert.Der Fluss der Zeit wird durch die Frequenz einer Atomuhr realisiert, also durch Massenträgheit und Kopplungskonstanten, die lineare Funktionen des Gravitationspotenzials sind. Zeit erscheint also als eine Schöpfung des Gravitationspotenzials. Die Frage vieler Menschen, warum das Universum so groß ist, findet hier eine Antwort: Nur durch diese gigantische Ansammlung von Materie und deren Gravitationspotenzial gibt es ausreichend Zeit für die Entwicklung von Kosmos, Erde und Mensch.Prof. Dr. Klaus Strobach, StuttgartBachmann, Emil: Wer hat Himmel und Erde gemessen? Von Erdmessungen, Landkarten, Polschwankungen, Schollenbewegungen, Forschungsreisen und Satelliten. Thun u. a. 21968.Bauer, Manfred: Vermessung und Ortung mit Satelliten. Heidelberg 41997.Bialas, Volker: Erdgestalt, Kosmologie und Weltanschauung. Die Geschichte der Geodäsie als Teil der Kulturgeschichte der Menschheit. Stuttgart 1982.Mansfeld, Werner: Satellitenortung und Navigation. Braunschweig u. a. 1998.Seeber, Günter: Satellitengeodäsie. Berlin u. a. 1989.Sobel, Dava /Andrewes, William J. H.: Längengrad. Die illustrierte Ausgabe. Die wahre Geschichte eines einsamen Genies, welches das größte wissenschaftliche Problem seiner Zeit löste. Aus dem Amerikanischen. Berlin 1999.Strobel, Jürgen: Global Positioning System. GPS. Technik und Anwendung der Satellitennavigation. Poing 1995.
Universal-Lexikon. 2012.